Page 22 - Walter Andreas Kirchner - Album
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Die Welt mit achtzig
Das Naheliegende ist uns fremd geworden.
W. A. Kirchner
Nein, es ist kein abgeklärter Lebensabschnitt, den der 1941 im rumänischen Banat geborene Walter Andreas
Kirchner, in Pforzheim ansässig geworden, inzwischen erreicht hat. Mit der Lebenserfahrung eines Acht-
zigjährigen ausgestattet, sieht er sich nicht einer glättenden Altersweisheit unterworfen, nach der die Mühe
– näher besehen – ohnehin nicht lohnt. Sie gehört schlichtweg zur Existenz, und wer sie annimmt, wächst
an ihr. Denn das Leben ist weniger ein Geschenk als eine Bewährungsfrist.
Es ist die muntere Nagold vor dem Haus in der Pforzheimer Friedenstraße, das fließende Wasser, das ihn
symbolhaft begleitet. Es ist immer gegenwärtig und immer flüchtig. Nicht das Ziel ist der Sinn, sondern
das Fließen im Bewusstsein der Unerschöpflichkeit der Quelle – die Zuordnung des Vordergründigen in
ein wandlungsfähiges Weltbild. Der Maler wird hier zum Poeten, aber nicht zum Reimer. Achtzig ist nicht
ein Verdienst – es ist eine Gnade. Die Horizonte sind durchlässig und es ist vielleicht sonst nichts als
die Demut, die in der Weite besteht. Was zählt, ist nicht der Rang, sondern das Werk, der Sinn und nicht
die Tat als solche. Der Welt nützen die Helden weniger als die Pflüger, die, ohne dekoriert zu werden,
das Ihre tun – am Tagesgeschwätz vorbei. Wo in dieser Abfolge hätte die Kunst ihren „angestammten
Platz“? Was sonst könnte ihr Auftrag sein, als das Hintergründige zu erkennen, den Kern auszusondern
und anzumahnen. Das mag zum Schwierigsten gehören, was man sich selbst aufzulasten vermag. Denn
was gut ist an sich, ist so unbekannt nicht, nur dass es uns so recht nicht gelingen mag, es zwischen-
menschlich umzusetzen. Was das Herz will, verhindert oft der Verstand – und umgekehrt.
Hat nicht alles seinen Preis? Das Gesetz und die Freiheit, Gottesfurcht und Häresie, Treue und Verrat?
Versagt die Kunst dort, wo sie dient? Oder ist sie nichts weiter als ein Standpunkt?
Für Kirchner ist sie ein Bekenntnis zur Existenz und zur Welt – jeweils eingegrenzt in einen bemessenen
Raum und eine gegebene Zeit. Für ihn ist das Zeitmaß relevant. Wo das Übersinnliche herein dämmert,
ordnet er es sich zu als unbewältigte Komponente. Es ist nicht sein Anliegen, alles zu entschlüsseln und
auch darzustellen. Nicht jedes ist ergründbar und benennbar. Und nicht alles, was uns zugänglich zu ma-
chen gelungen ist, beherrschen wir. Es mag diese Spanne an Grenzwissen sein, die unsere latente Über-
heblichkeit zügelt in der Einsicht, dass diese Spanne bleibend sein wird. Ist es ein Mangel oder schützt es
uns vor einer sich bedrohlich abzeichnenden Gefahr der Selbstzerstörung?
Nein. Es geht kein Signal aus von den gesellschaftskritischen Kompositionen Kirchners. Er hat nicht ein
Programm zur Hand – nur das Spiegelbild seiner Bildkunst Er ist politisch, aber seine kritische Darstellung
der Gegenwart ist nicht auf der Suche nach neuen Propheten. Sie mahnt eine Rückbesinnung an auf das
humane Maß der Existenz, das nicht triumphal und zugleich gerecht sein kann. Der Straßenprediger Jesus
von Nazareth mag uns dabei in den Sinn kommen, dem zu Ehren wir Dome errichtet und Kriege geführt
haben, im groben Missverständnis seiner Botschaft.
Walter Andreas Kirchners Kunst – ursprünglich aus einer zerstörten regionalen Geborgenheit ausgehend
– ist in gewisser Weise unterwegs geblieben. Es mag strittig sein, ob Kunst überhaupt ankommen kann.
Sie mag angenommen sein, bleibt aber veränderlich und will es sein. Wer wie Kirchner achtzig geworden
ist und, wie er, zwei Diktaturen durchlitten hat, wird neuen Verheißungen gegenüber zögerlich geworden sein.