Page 23 - Walter Andreas Kirchner - Album
P. 23

Das Glück hat viele Facetten und viele Fallen. Es ist auslegbar und somit weniger konkret, und es mag in
                der Zuweisung so gerecht nicht sein. Es ist nicht vorrätig. Ist es teilbar?

                Fragen kommen auf  und bleiben. Zeigt Kirchners Kunst den Aufstand gegen Raffsucht und Geltungs-
                trieb? Gegen den Profit als Maxime? Den Aufstand gegen sich selbst? Er enttarnt in seinen gesellschafts-
                kritischen Bildern nicht den hässlichen Nachbarn, sondern den Mitmenschen in seiner Not und in seiner
                Anfälligkeit für den kleinen Nutzen. Das Schäbige in uns, den pervertierten Geltungswillen, der uns seit
                der Vertreibung aus dem Paradies anhaftet. Er ist nicht auf  Botschaften aus. Er registriert, was er sieht
                nicht als Außenstehender, denn die Anderen, das sind wir selbst.

                Hätte somit, global besehen, die ebenso mühsame wie schmerzhafte Aufgabe der Banater Heimat die Pro-
                bleme nur verlagert, aber nicht entschärft? Sind diese, unterschiedlich markiert, begleitende Aspekte ge-
                blieben, die unseren neuen Wohlstand mit benoten? Alles wird zur Gewissensfrage, die zu handeln auffor-
                dert und sogar verpflichtet, die Kunst zusätzlich streitbar macht und visionär. Das mag so neu nicht sein,
                aber vielleicht so nötig wie nie zuvor. Kirchner mahnt diese Aktualität des Zeitpunkts an in einer Vielzahl
                beängstigender Kompositionen. Mitten in Deutschland, am Fuße des Schwarzwalds und in einer Stadt, die
                sich aus den Trümmern des letzten Krieges mit einer neuen Zuversicht wieder erhoben hat. Kritische
                Einsicht und elementare Zwänge bestimmen das neue Zeitbild, Anpassung und noch immer auch Boden-
                haftung. Sie mag in Pforzheim einer gewissen Sprödigkeit nicht entbehren und zögerlich sein – nicht aber
                ortsfremd.
                Für Kirchner ist die neue Heimat Pforzheim nicht das ausgeklügelte Ergebnis vorausgehender Überlegun-
                gen und Erwartungen. Seine Entscheidung war diktiert von der Not, nicht mehr sein zu dürfen, was er
                sein wollte: ein freier Mensch in einer freien Gemeinschaft. Sein Ziel war nicht ein anderer Ort, sondern
                eine andere Welt. Nicht ein anderes Programm, sondern kein Programm.

                Nicht die Einigelung in eine Pforzheimer Häuslichkeit, sondern die Schrankenlosigkeit des Kontinents.
                Sein Sprung ins Römische war nicht ein Ferienziel, sondern das bewusste Einklinken in eine kunsthistori-
                sche Zugehörigkeit, die eine Nähe zum klassischen Ebenmaß nicht scheut. Er ist traditionell und experi-
                mentell zugleich, einer der wagt und Kurs hält ohne vorgegebene Zielgerade. „Er sucht und findet“ – so
                charakterisiert Dr. Walther Konschitzky den Künstlerfreund und Banater Landsmann.

                Kirchner begreift sich und seine Kunst in diesem universellen Sinn, der unseren Blick auf  die Schöpfung
                zurückversetzt in ihre Ursprünglichkeit. Er ist Mahner und Streiter, ein Bekennender auch, dem die Wun-
                den „die sich überall ausbluten“ weder verborgen bleiben noch gleichgültig sind. Er ist präsent aus gutem
                Grund.
   18   19   20   21   22   23   24   25   26   27   28